Enthält die Bibel lauter Märchen? Die biblische Textsammlung ist das meisterforschte Werk überhaupt. In einem früheren Beitrag bin ich der Frage nachgegangen: Wie glaubwürdig ist die Bibel? Wie verlässlich wurden die Offenbarungen aufgeschrieben und überliefert? Ich war zum Ergebnis gekommen, dass die biblischen Zeugen und ihre Texte außerordentlich belastbar sind.

Aber wie steht es um die Wahrheit der Offenbarungen an sich? Kann ich die für bare Münze nehmen mit z.B.

  • der Erschaffung der Welt in sechs Tagen?
  • Adam und Eva?
  • einer sprechenden Schlange?

Was war oder ist Dein größtes Glaubenshindernis?

Implizite Wahrheit von Märchen

Es stellt sich also als zweite Frage: Welchen Wahrheitsgehalt haben die Texte? Ist die Bibel voller Märchen? Damit wird unterstellt, Märchen wären nicht wahr. Aber auch wenn eine erzählte Handlung frei erfunden ist, kann sie eine implizite Wahrheit enthalten. Was übrigens für die meiste Literatur gilt.

Fast immer sind es frei erfundene Erzählungen und Geschichten, in denen uns das erste Mal Paradigmen des Menschseins wie Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit, Bescheidenheit, Schönheit etc. berühren. Wäre es so verwerflich, wenn die Bibel auch nur stellenweise denselben Versuch unternehmen würde? Die Bibel mit ein paar Märchen?

Wahrheitsebenen nach Textgattung

Bibel voller Märchen

Die Bibelwissenschaft unterscheidet zwischen verschiedenen Textgattungen mit unterschiedlichen Wahrheitsebenen. Das Schaubild oben versucht sich in einer Darstellung, die die grundsätzlichen Unterschiede darstellen soll. Über die Details und von mir getroffenen Einordnungen lässt sich vortrefflich streiten. Aber darum soll es hier nicht gehen.

  • Die Briefe von Paulus und anderen (wie die Gattung Brief seit jeher) bürgen für eine hohe historische Wahrheit. Unter den Adressaten waren noch Zeitzeugen, denen Fälschungen aufgefallen wären.
  • Die Evangelien stützen sich auf rund 50.000 Zeitzeugen, die Jesus im O-Ton gehört haben. Ihre Zeugnisse wurden verglichen und der uns überlieferte, übereinstimmende Kern bürgt wiederum für eine hohe historische Wahrheit.
  • Die Prophetenbücher behandeln mehr Gottes Sprechen zu einzelnen Personen, als dass sie an den genauen geschichtlichen Hintergründen interessiert sind.
  • Die Poesie- und Weisheitsschriften sprechen auf lyrischer Ebene zum Leser.
  • Die Geschichtsbücher behandeln reale Ereignisse, haben aber nicht den Anspruch eines geschichtswissenschaftlichen Berichts, sondern setzen die Genealogie des Volkes Israel fort. Das merkt man u.a. an den Zahlenangaben: Die Heeresgrößen übersteigen tw. die der napoleonischen Kriege. Propaganda war schon damals Praxis.
Lebenswirklichkeit im Blick

Insbesondere das erste Buch Mose, Genesis, und hier die Schöpfungserzählung darf (nicht: muss) als Mythos verstanden werden, ohne dass es die implizite Wahrheit sonderlich schmälert. Die ersten Texte der Bibel haben Zielgruppen und deren Lebenswirklichkeit im Blick, mit denen viele von uns kaum Berührungen haben: einfache Nomaden, Bauern und Handwerker. Sie sollten auch ohne Bachelor, Internet und Wikipedia etwas vom Geheimnis, der Größe und Erhabenheit dieser Welt und ihres Schöpfers begreifen können. In diesem Sinne beanspruchen sie, wahr zu sein.

Ein Beispiel: Die Rhythmen von Zeit wie Tag und Nacht oder den Jahreszeiten sind aus Sicht dieser auf die Natur mit Saat, Reife und Ernte angewiesenen Menschen Kennzeichen natürlicher Ordnung. Wenn also von sechs Schöpfungstagen die Rede ist, so liegt kein astronomisches Zeitmaß zugrunde (das ja selbst erst am vierten Tag erschaffen wird!), sondern beschreibt die Schöpfungsqualität: Schöpfung ist kein chaotisches Geschehen, sondern unterliegt einem Plan, einer Reihenfolge, einer Kontrolle und ergibt daher eine Ordnung.

Erzählkunst als Qualitätssiegel

Zur orientalischen Erzählkunst gehört, Wahrheit derart in Geschehnisse zu betten, dass sie die Erzählung, die Handlung wie ein Kokon schützend umschließt und eine originalgetreue Weitergabe ohne Auslassungen und Verfälschungen gewährleistet. Forschungen bei primitiven Völkern zeigen immer wieder, dass sie über verblüffende Memorierungsfähigkeiten verfügen und die Überlieferung äußerst akkurat funktioniert. Orientalische Erzählkunst ist also kein Makel für Echt- und Wahrheit, sondern ihr Qualitätssiegel!

Ich stelle am “Abend der Wahrheit” zur Frage “Was ist Wahrheit?” immer wieder fest, dass es eine Hilfe sein kann, biblische Texte mal mit einer gewissen Unschärfe, einem Weichzeichnereffekt zu lesen. Ich zeige zur Veranschaulichung ein Bild, das zunächst sehr geometrisch wirkt. Kneift man aber die Augen etwas zu und schaut es sich aus etwas Distanz unscharf an, entdeckt man als “Wahrheit” ein Gesicht “hinter” der Geometrie.

Wer so Wahrheit in den biblischen Texten zu entdecken vermag, läuft weder Gefahr, sich in einem engen Biblizismus zu verirren noch ins andere Extrem zu kippen: Die Bibel ist voller Märchen. Vielmehr befindet er sich auf einem sehr jüdischen und somit guten Weg, die Texte im Sinne ihrer Autoren und ihres Meta-Autors, Gott, zu verstehen und ihnen zu vertrauen.

Titelfoto: Pixabay

Mehr am “Abend der Wahrheit” mit der Frage: “Wie wahr ist Wahrheit?”

Was ist Wahrheit?

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